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Schriften von Thomas Brunner Eurythmie als naturwissenschaftlicher Illussionismus Anmerkungen zur Dogmatisierung eines Missverständnisses Thomas Brunner In kaum einem anderen, unmittelbar aus der Anthroposophie heraus impulsierten Lebensgebiet, als in der Eurythmie, zeigt sich deutlicher, wie durch den Tod der tragenden, noch mit der Aura des Wirkens Rudolf Steiners verbundenen, Persönlichkeiten, eine Ära zu Ende gegangen ist; und wie ein Neuanfang errungen werden muss, wenn dieser Kulturzweig nicht wieder versanden soll. Viele Menschen, die noch, ob als Schüler, Kursteilnehmer, in der künstlerischen Arbeit oder als Besucher einer Aufführung, etwa Else Klink, Lea van der Pals, Elena Zuccoli,Trude Thetter, Helene Reisinger oder Friedhelm Gillert wahrnehmen konnten, werden sich an bleibende und oftmals lebensentscheidende Eindrücke erinnern. So sehr diese Persönlichkeiten oft auch geradezu als Antipoden erlebt werden konnten, so war ihnen allen doch die ausstrahlende und schulebildende künstlerische Überzeugungskraft eigen. Weniger war es die gedankliche oder theoretische Darlegung, durch die diese EurythmistInnen für ihre Kunst begeisterten, sondern vielmehr war es ihr unmittelbares persönliches Wirken, was sie für viele zu Autoritäten werden ließ. Gerade dieser Umstand muss aber für die gegenwärtige Situation der eurythmischen Kunst voll begriffen werden: Das Erlebnis, der, von allen anderen Bewegungskünsten zu unterscheidenden, neuen Bewegungsqualität der Eurythmie, das die "großen Alten" oft noch wie instinktiv mitbrachten, muss heute auf einem voll-bewußten Erkenntnisweg neu erarbeitet werden. Diese jetzt gegangene Generation hatte noch ganz andere natürliche und biographische Vorraussetzungen, auf die wir Heutigen zumeist nicht mehr bauen können. In ganz anderer Weise hat für die jetzigen Generationen die naturwissenschaftliche Denkungsart eine (oftmals) handlungs-bestimmende Macht gewonnen. Was Rudolf Steiner im Zusammenhang mit der sozialen Frage über die Bedeutung der naturwissenschaftlichen Denkungsart für den in materialistischen Verhältnissen arbeitenden "Proletarier" sagt, gilt im heutigen elektronisch vernetzten "Sozialstaat" immer existentieller für alle Menschen: "Der Gebildete hat die Wissenschaft aufgenommen; sie ist in einem Schubfach seines Seelen-Innern. Er steht aber in Zusammenhängen und lässt sich von diesen seine Empfindungen orientieren, die nicht von dieser Wissenschaft gelenkt werden. Der Proletarier ist durch seine Lebensverhältnisse dazu gebracht, das Dasein so aufzufassen, wie es der Gesinnung dieser Wissenschaft entspricht." 1 Heutige Kindheiten werden wohl nur noch selten den (bildenden) Erlebnisreichtum mit sich bringen, wie er sich etwa noch der 1907 auf Neuguinea geborenen Else Klink ergab. D.h., dass Rudolf Steiners eurythmische Anregungen u.a. deshalb zu dieser ersten fruchtbaren Entfaltung kommen konnten, weil sie unmittelbar auf eine noch vorhandene Erlebnisfähigkeit trafen - von der heute nicht mehr ausgegangen werden kann. Wer sich mit wachen Sinnen dem Wirken dieser ersten EurythmistInnen widmete, der konnte erfahren, dass diese Künstler noch viel beweglicher mit den sogenannten "objektiven eurythmischen Gesetzen" umgingen, weil diese "Gesetze" allen zwingenden Charakter gegenüber der Stärke des ganz individuellen inneren Erlebens verloren. Als wesentliche Ursache der gegenwärtigen eurythmischen Krise kann also das Problem erkannt werden, welches entsteht, wenn die eurythmischen Angaben als "Kopfwahrheiten" ohne die individuelle Erlebnisfähigkeit praktiziert werden: sie werden zu ertötenden Abstraktionen. Diese Abstrahierung hat mittlerweile z.T. groteske Züge angenommen. Beispielhaft sei hier ein Auszug aus einem aktuellen Eurythmie-Programmheft zitiert: "Die hier stattfindende Laut- und Tonbildung in die Bewegungsformen des ganzen menschlichen Organismus entsprechend der Gesetzmäßigkeit der Sprache und der Musik (z.B. Versmaß oder Grammatik in der Sprache, bzw. Takt, Melos und Rhythmus in der Musik) umzusetzen, - das ist die Aufgabe der Eurythmie. Die eurythmische Bewegung soll kein subjektiver und willkürlicher Ausdruck sein. Der Mensch dient als Instrument der Sprache und der Musik." 2 Es soll hier keine persönliche Kritik geäussert werden, doch ist dieses Zitat in charakteristischer Weise der Ausdruck für ein Missverständnis der Aufgabe eurythmischer Kunst, durch das sich die instrumentalisierende Macht naturwissenschaftlicher Logik in Reinkultur ausspricht. Folgte man diesem Zitat, so würde man mit der Eurythmie den alten Subjekt-Objekt-Dualismus zementieren, genau dessen Überwindung doch zu Rudolf Steiners zentraler Lebensleistung gehört. Da sich das hier zu besprechende Missverständniss mittlerweile geradezu zu einem Dogma verhärtet hat, gilt es, die Aussage des Zitats einmal etwas genauer zu analysieren. Die Eurythmie habe also die Aufgabe, die "stattfindende Laut- und Tonbildung in die Bewegungsformen des ganzen menschlichen Organismus entsprechend der Gesetzmäßigkeit der Sprache und der Musik (...) umzusetzen". Nun kann gefragt werden: soll das heissen, dass die Eurythmie ausschließlich der sichtbarmachenden Nachahmung der durch die Sprache und die Musik sich äußernden "Gesetzmäßigkeiten" dienen soll? Das Kurriose ist, dass genau das gesagt werden soll: die Eurythmie soll die "stattfindende Laut- und Tonbildung" (also das, was der Sprachgestalter oder der Musiker tut) in sichtbare Bewegung "umsetzen", der eurythmische Mensch also im Idealfall ein hypersensibles Wahrnehmungswesen zu sein hat, der alles "Subjektive und Willkürliche" auslöscht, um als reines Medium ("Instrument"), die bereits bestehenden - im Hörbaren sich äußernden "Gesetze" -, in Parallelität zur Erscheinung zu bringen. Man kann sich dieses Anliegen etwas drastisch verdeutlichen: So wie z.B. bei einer telephonischen Kommunikation das gesprochene Wort in einem Bruchteil einer millionenstel Sekunde digitallisiert (also in ein anderes Medium "umgesetzt") und wieder nach den digitalisierten "Gesetzen" zu einem wiederum akustischem "Wort" entschlüsselt wird, so soll also durch die Eurythmie z.B. der "Rhythmus" einer Komposition Felix Mendelssohn-Bartholdys in sichtbare Bewegung "umgesetzt" werden. Es ist leicht ersichtlich, dass dies nichts anderes als eine naturwissenschaftliche Illussion ist, dass der Mensch eben nicht nach reinen Naturgesetzen "funktioniert"! Die Absurdität dieser Illussion kann an einfachsten Beispielen deutlich werden (wenn z.B. die Schnelligkeit eines Musikstückes offensichtlich die menschlichen "Umsetzungsfähigkeiten" überfordert), was ja auch durchaus bemerkt wird. Merkwürdigerweise werden die dann auftretenden "Umsetzungsprobleme" allerdings zumeist nur mit irgendwelchen (also im landläufigen Wortsinne: "subjektiven" oder "willkürlichen") Kompromissen zu lösen versucht - anstatt sich einmal grundsätzlicher zu fragen, ob dem eigenen Bemühen vielleicht schlicht und einfach ein untaugliches Axiom zu Grunde liegt - denn nichts anderes, als gerade das ist der Fall! Es ist in diesem Zusammenhang vollkommen gleichgültig, ob z.B. ein "Stück" J. S. Bachscher Musik "eurythmisiert" wird oder etwas ganz "Modernes"; denn entscheidend ist hierbei nicht das - Was - und nicht einmal das - Wie -, sondern, ob der - Wer - dem naturwissenschaftlichen Kausalitätsdogma erlegen ist, oder sich zu einem individuellen Willenserleben durchgearbeitet hat. Denn das ist die Vorraussetzung allen künstlerischen Handelns: "In dem Augenblick, wo das reine Denken als Wille erlebt wird, ist der Mensch in künstlerischer Verfassung." 3 (Wohlgemerkt: Denken - nicht Wahrnehmung!). Zwar bespricht auch Rudolf Steiner gelegentlich den eurythmischen Prozess als einen Akt der "Umsetzung", doch zeigt sich immer, dass er damit nicht einfach eine "Übertragung", sondern eine neuschöpferische Polarisation bezeichnet: "Es ist schon richtig, es handelt sich nur darum, dass, wenn umgesetzt wird dasjenige, was also im Atmungssystem lebt, in's Bewegungssystem, so wird es umgekehrt. Oberer Mensch und unterer Mensch ist ja umgekehrt. Also es muss jeder Jambus, der zu denken wäre etwa im Atmungssystem, also durch das Sprechen hervorgebracht, der muß ein Trochäus werden in der Bewegung mit den Beinen und umgekehrt. Darauf ist nämlich die ganze Eurythmie gebaut. Sie können die ganze Eurythmie daraufhin prüfen, es geht nicht etwa nach dem Gesichtspunkt der Ähnlichkeit, wenn sie ausgeführt wird, sondern es ist immer die Bewegung, die entspricht nach dem Bilde der Polarität." 4 Hier wird verständlich, warum Rudolf Steiner immer wieder betont, dass die Eurythmie als vollkommen eigenständige Kunst neben die anderen Künste gestellt werden muss. Ebenso, wie die schöpferische Tätigkeit des Sprechers oder des Musikers, "muss Eurythmie durchaus etwas sein, was eine ursprüngliche Schöpfung darstellt". 5 Der eurythmische Künstler ist also nicht einfach als "Illustrator" von Ton und Wort zu verstehen, sondern er steht dem Sprecher oder Musiker primär genauso polar gegenüber, wie der Hörende dem Sprechenden im lebendigen Gespräch (nur dass er seine "Gesprächsbeiträge" nicht in Worten, sondern in gestalteter Bewegung gibt). Es kommt eben nicht darauf an, "dass nur die Form nachgeahmt wird, sondern dass die Form innerlich erlebt wird". 6 "Die Gebärde, die das musikalische Gebilde auszudrücken hat, soll eine erlebte Gebärde sein, und sie kann nur eine erlebte Gebärde sein, wenn das Erlebnis, das zugrunde liegt, erst da ist." 7 Auffallend an diesen beispielhaften Zitaten ist, welche zentrale Bedeutung Rudolf Steiner der inneren Erfahrung beimißt, die er - Erleben - nennt. Was kann unter diesem Erleben verstanden werden? Woraus ist dieses Erleben motiviert? Dass diese Fragen wohl von vielen eurythmisch Tätigen als überflüssig angesehen und abgetan werden ("natürlich haben wir Erlebnisse"), liegt nur daran, dass zumeist von einer Verwechslung ausgegangen wird. Natürlich, jeder Mensch hat Erlebnisse, doch gerade in der Kunst kann es deutlich werden: Beispielsweise der Rezipient einer Klaviersonate Ludwig van Beethovens wird wohl zumeist richtig beraten sein, wenn er sein eigenes am Werk entzündetes "Erleben" nicht unmittelbar mit dem Schöpfungserleben des Komponisten gleichsetzt. Es ist ja unbestreitbar, dass selbst jedes Tier gewisse "Erlebnisse" kennt. Vom Tier erwartet aber niemand, dass es zu Erlebnissen fähig sei, die ihm ein schöpferisches Handeln ermöglichten. Das Tier reagiert auf seine Umwelt, es ist mit seinem Erleben an seine Sinnes-Wahrnehmungen gebunden, es empfängt also in gewisser Weise seine Erlebnisse von "außen". Der Sprachgebrauch hat für diese - an der Sinnes-Wahrnehmung entstehende - Erlebnisqualität, folgerichtig das Wort Empfindung geprägt. - Erleben im steinerschen Sinne muss von dieser, hier "Empfindung" genannten, Qualität aber unbedingt unterschieden werden. Wer sich diesen Unterschied von emp-fangendem Emp-finden und er-schaffendem Er-leben klar macht, der wird schon die Ehr-Furcht vor einem Menschenwerk, wie etwa einer Beethovenschen Sonate entwickeln... "Es ist dies die Stimmung, die man hat, wenn man aus dem Innerlich-Seelischen heraus zu einem zweiten Menschen gekommen ist, der nicht so erkannt werden kann wie der äußere physische Leib, den man physiologisch oder anatomisch studieren kann, sondern der erlebt werden muss, daher er mit Recht "Lebensleib" oder "Ätherleib" genannt werden kann, wenn man die Ausdrücke nur nicht im alten Sprachgebrauche nimmt. Dieser Ätherleib kann nicht äußerlich angeschaut werden. Er muss innerlich erlebt werden; es muss, um ihn zu erkennen eine Art künstlerischer Tätigkeit entwickelt werden." Dass dieses Erleben aus den heutigen eurythmischen Zusammenhängen fast restlos verschwunden ist, liegt daran, dass zumeist in Empfindungen hängengeblieben wird, der eurythmische Prozeß also zu früh unterbrochen wird. Rudolf Steiner hat diese Problematik eingehend dargestellt. In genauer Charakterisierung finden wir eine Schilderung des eurythmischen Prozesses bei Rudolf Steiner, der hier zumindest skizziert werden soll. I Hören "Machen wir uns nun klar, was da eigentlich vorgeht; aber gehen wir ganz exakt vor dabei. Was geht vor? Es wird eine Dichtung rezitiert. Also derjenige, der eurythmisiert - der kommt ja physiologisch für uns jetzt in Betracht -, hört an, er hört zu. Das ist das erste, was wesentlich zu beachten ist: er hört zu. Das ist das Wesentliche." 9 II Das sinnerfüllte Wort "Und er hört sich etwas an, was im wesentlichen das sinnerfüllte Wort, der sinnerfüllte Wortzusammenhang ist. Also er hört sich etwas an, worinnen Denktätigkeit, Vorstellungstätigkeit lebt. Dasjenige, was er äußerlich wahrnimmt, ist Vorstellungstätigkeit, gekleidet in den Lautzusammenhang." 10 III Bewußtes Empfinden "Der Mensch tritt also gewissermaßen leise aus sich heraus, indem er zuhört. Er verfällt, indem er zuhört, in einen Zustand, der schlafähnlich und wieder nicht schlafähnlich ist. Schlafähnlich ist er dadurch, dass sein Ich und sein astralischer Leib leise heraustreten. Nicht schlafähnlich ist er dadurch, dass dieses Ich und der astralische Leib doch empfänglich, wahrnehmend (Hervorhebung durch T.B.) bleiben und sich bewußt bleiben. Es ist also dasjenige, was sich da abspielt, außerordentlich ähnlich dem Imaginieren. Es ist ein leises bewusstes Imaginieren, das noch sehr stark in das Unterbewußte hinuntergedrängt ist. Das ist der Vorgang." 11 An dieser Stelle wird zumeist der eurythmische Prozeß unterbrochen, und das differenziert Wahrgenommene, die hörbaren Laut- oder Tonqualitäten und empfindend gebildeten Sinnbilder etc. durch Bewegungen zur Ausführung gebracht. Dadurch wird aber der eigentlich eurythmisch-schöpferische Prozeß unterbunden. (Es sei nur darauf Aufmerksam gemacht, das Rudolf Steiner von einem Bewußtseinsstadium spricht, das "außerordentlich - ähnlich - dem Imaginieren" ist. - Also nicht mit der noch folgenden Imagination verwechselt werden darf, wie dies häufig geschieht. Siehe Fußnote 12 IV Aktivität des Ich Dieser Moment ist von Rudolf Steiner (in diesem Zusammenhang) nicht weiter ausgeführt, er kann jedoch als der aktive Moment erkannt werden, den "Verführungen" der Empfindung und ihrer Bilder (also dem Raumempfinden und Bewegungsbedürfnis der III. Stufe), nicht nachzugeben, sondern erkennend standzuhalten. V Reaktion des Ätherleibes (Imagination) "Gegen jeden solchen Vorgang gibt es eine Reaktion des Menschen selbst; diese beobachten wir auch. Also jetzt schauen wir auf dasjenige, was sich bei bei einem Menschen vollzieht, der eben nicht rezitiert. Was tut er denn, wenn er zuhört? Er bringt seinen Ätherleib in Bewegung. Der Ätherleib reagiert." 13 Auf dieser Stufe wird die Wahrnehmung also in gewisser Weise umgestülpt: nicht mehr geht es um das Ausbilden von Empfindungen an der Sinneswelt, sondern um den Akt der selbstbesinnenden Beobachtung des eigenen Erlebens. Rudolf Steiner spricht von Bildwahrnehmen ohne Gegenstand. 14 VI Die Ätherbewegungen "studieren" (Inspiration) "Man braucht den Menschen gar nicht im Schlafe zu studieren, man kann die Ätherbewegungen des Menschen studieren, wenn er zuhört, und auch da gerade die verstärkten Schlafbewegungen des Ätherleibes. Diese Bewegungen studiert man,..." 15 Dieses "Studieren" bezeichnet Rudolf Steiner auch als reines Begriffserleben ohne Bild. 16 VII Handeln aus reinem Willens- (Ätherbewegungs-) Erleben (Intuition) "...und man läßt sie nun vom physischen Leibe ausführen, das heißt, man läßt den physischen Leib in alle die Ätherbewegungen hineingleiten, die man auf die eben angegebene Weise studiert hat." 17 Das ist der Zustand wahren schöpferischen Handelns: Ichhafte-Willenserfahrung ohne Begriff, reines Erleben. 18 Diese Skizze des eurythmischen Prozesses mag als Andeutung genügen. Die Eurythmie hat also nicht die Duplierung der Sinneswahrnehmung oder das "Ausdrücken" der an ihr gewonnenen Empfindungen zur Aufgabe 19, sondern sie erhebt den Menschen in die, im Denk-Erleben wahrgenommenen, Bewegungsmetamorphosen und Sinngestaltungen. So wie das Blut in der Lunge belebt und "arteriell" durch das Herz in den Stoffwechsel fließt, um gewandelt ("intuitionsbegabt") als venöses Blut wieder durch das Herz zur Lunge zurück zu fließen; so erfährt der eurythmische Künstler erst aus der Intuition seinen eigentlichen Bewegungsimpuls, um sich wiederum über die Inspiration (Herz) zur "Bildgestalt" der Gebärde (Lunge) in die sinnliche Welt ein zu arbeiten: "Man muss sich ja darüber klar sein, dass das Künstlerische durch die Vermittlung des Menschen herausgeboren werden muss aus dem Übersinnlichen. Geht man von dem Übersinnlichem abwärts bis zu der äußeren sinnlichen Erscheinung, so hat man oben, möchte ich sagen, da wo der Mensch zusammenfließt mit dem Übersinnlichen, die Intuition. Wenn der Mensch schon selbständig dem Übersinnlichen gegenübersteht, es vernimmt, es sich offenbaren lassen kann, dann hat man es zu tun mit der Inspiration. Und wenn der Mensch das Inspirierte so intensiv mit seiner eigenen Wesenheit verknüpfen kann, dass er es zu gestalten in der Lage ist, dann tritt die Imagination ein." 20 So mündet der konsequent phänomenologische (wissenschaftliche) Weg in die Möglichkeit einer künstlerischen Neugestaltung. Nun erst kann die Eurythmie im vollen Sinne als "Offenbarung der sprechenden Seele" bezeichnet werden. 21 Es ist deutlich: In der eurythmischen Krise zeigt sich nicht nur eine berufsspezifische Problematik, sondern zugleich auch die entscheidende Symptomatik unseres gesamten gegenwärtigen Kulturbefindens. Die 7 Schritte des eurythmischen Prozesses sind nichts anderes, als die Stufen zu einer - zeitnotwendigen - vertiefenden Erfassung der Wirklichkeit des Menschen. Die eurythmische Krise verdeutlicht also in gewisser Weise "barometerhaft" die Kulturaufgabe der Gegenwart: durch die Überwindung der (empfindungs-seelenhaften) Kurzschlüsse eine neue Erlebnisfähigkeit zu entwickeln. Soll die einseitige Logik angewandter Naturwissenschaft nicht zur alleinigen Macht im sozialen Leben werden, muss in neuer Weise das Denken wieder zur individuellen Willenserfahrung werden. Wenn heute in einer Zeitschrift zu lesen ist: "Für mich ist jeder Wurm eine kleine Person, wir sind auch nichts anderes als eine Ansammlung von Geweben" 22, so ist das kein Witz aus dem 19. Jahrhundert, sondern tatsächlich die Aussage einer an "Eliteuniversitäten" ausgebildeten "Spitzenkraft" der gegenwärtigen Wissenschaft! In über 50 Vorträgen bemühte sich Rudolf Steiner mit seiner Darlegung von der auch sensitiven Eigenschaft der sogenannten "motorischen Nerven", die mögliche Erfahrung des sich rein geistig motivierenden Willens in das wissenschaftliche Gespräch zu bringen. 23 Doch heutige Lehrbücher enthalten weiterhin den alten Dualismus von den sensitiven und motorischen Nerven. Gerade die Eurythmie könnte ein Weg sein, diese Wissenschaft - künstlerisch - auf neue Gedanken zu bringen... Wer diese Zusammenhänge durchschaut, ist gleichsam bewahrt vor jeglicher nostalgischen Verklärung der "Guten-alten-Zeiten", wie andererseits vor billigen Effekten und spektakulärem Experimentieren; zugleich aber ermutigt die heutige Krisensituation der Eurythmie als Chance zu begreifen. 1 Rudolf Steiner, Die Kernpunkte der sozialen Frage, Dornach 1984, Seite 32 2 Auf eine genaue Zitatangabe soll hier verzichtet werden, weil dieses Zitat nur als typisches Beispiel zur Anschauung einer bestimmten Auffassung dienen soll, und jederzeit durch ein Vergleichbares ersetzt werden könnte. 3 Rudolf Steiner, Geistige Wirkenskräfte im Zusammenleben von alter und junger Generation / Pädagogischer Jugendkurs, Dornach 1990, Seite 151 4 Rudolf Steiner, Heileurythmie, GA 315, Dornach 1977, Seite 69 / 70 Zur Aussage, man könne "die ganze Eurythmie daraufhin prüfen..." (nicht Ähnlichkeit, sondern Polarität): Hierzu siehe z.B. Rudolf Steiners Ausführungen zur Bildung der Toneurythmischen Dur / Moll-Gebärden, so beschreibt er z.B. die Moll-Gebärde: "Wenn ich sage: Ich sitze zu tief in mir, ich muß mich mir selbst entreißen - ja, es ist ganz zweifellos, daß irgendeine Gebärde, welche von mir abgeht, eine natürliche Gebärde ist." (im Vortrag vom 20. 2. 1924, GA 278, Dornach 1984, Seite 31) Deutliches ist auch zu finden in den Beschreibungen der ersten Zeit von Lory Maier-Smits (Rudolf Steiner GA 277a, Dornach 1982). - Auch hat der Verfasser dieses Aufsatzes selbst in einigen Publikationen schon eine eingehendere Behandlung dieses Themas vorgelegt: Kunst und Soziale Frage / unter besonderer Berücksichtigung der Eurythmie, 1993; Die Eurythmie als Weg zur Entfachung des inneren Feuers, 1994; Die Evolutionsreihe und die vier menschlichen Temperamente, 1995; jeweils bei Lohengrin Verlag, Tellingstedt 5 Rudolf Steiner, Eurythmie als sichtbare Sprache, Dornach 1955, Seite 6 6 ebenda, Seite 45 7 Rudolf Steiner, Eurythmie als sichtbarer Gesang, GA 278, Dornach 1984, Seite 28c 8 wie 3 Im Zusammenhang mit dem Bau des ersten Goetheanums geht Rudolf Steiner so weit, dass er dieses Erleben, als das eigentliche - immer erst zu bildende - neue Kunstwerk bezeichnet: "Ein altes Kunstwerk wirkte durch das, was in seinen Formen und Farben war. Die Formen und Farben machten Eindruck. (...) Das (neue) Kunstwerk ist dasjenige, was die Seele erlebt, indem sie den Formen entlang erlebt. (...) Auch das, was malerisch zu finden sein wird in unserem Bau, ist nicht da, um durch sich selbst als solches zu wirken, wie es bei der alten Kunst der Fall war, sondern um die Seele, indem sie an das stößt, was da ist, erleben zu lassen dasjenige, was ihr Erleben zu einem Kunstwerke macht." (Rudolf Steiner, Kunst im Lichte der Mysterienweisheit, Vortrag vom 28. Dez. 1914, Dornach 2000, Seite 36 / 37) Auch im Schaffen Joseph Beuys' findet sich dieser neue Kunstbegriff. Beuys: "Ja, der Beuys arbeitet mit Filz, warum arbeitet er nicht mit Farbe? Aber die Leute denken nicht so weit, daß sie sagen: Ja wenn er mit Filz arbeitet, könnte er nicht vielleicht dadurch in uns eine farbige Welt provozieren? [...] Also: eine lichte Welt, eine klare lichte, unter Umständen eine übersinnlich geistige Welt damit sozusagen zu provozieren, durch eine Sache, die ganz anders aussieht, eben durch ein Gegenbild. Denn Nachbilder oder Gegenbilder kann man nur erzeugen, indem man nicht das tut, was schon vorhanden ist, sondern indem man etwas tut, was als Gegenbild da ist - immer in einem Gegenbildprozeß." (Zitiert aus: Joseph Beuys, Plastische Bilder 1947 - 1970, Stuttgart 1990, Seite 32) 9 wie 4, Seite 72 10 wie 4, Seite 72 11 wie 4, Seite 73 12 Wie wesentlich eine vollbewußte und sensible Bildetätigkeit auf dieser Ebene ist, das kann z.B. durch die Schriften Werner Barfods erfahren werden. Barfod erliegt allerdings der Gefahr, diese Ebene bereits als die, durch die Eurythmie zur Erscheinung zu bringende aufzufassen. Siehe z.B. den Aufsatz von Werner Barfod "Die Sprache als Beweger des eurythmischen Raumes", Tycho de Brahe-Jahrbuch für Goetheanismus 1990, Niefern-Öschelbronn. 13 wie 4, Seite 73 14 siehe die Schrift Rudolf Steiners: Die Stufen der höheren Erkenntnis 15 wie 4, Seite 73 16 wie 14 17 wie 4, Seite 73 18 wie 14 19 Ein Bestreben, das Rudolf Steiner grundsätzlich als unkünstlerisch ansieht: "Und zwar scheint mir die eine Erbsünde im künstlerischen Schaffen, im künstlerischen Genießen, die der Abbildung, der Nachahmung zu sein, der Wiedergabe des bloß Sinnlichen. Und die andere Erbsünde scheint mir zu sein, durch die Kunst ausdrücken, darstellen zu wollen, offenbahren zu wollen das Übersinnliche." aus: Rudolf Steiner, Kunst und Kunsterkenntnis, Stuttgart 1967, Seite 46. 20 Die Weihnachtstagung zur Begründung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft 1923-24, Dornach 1963, Ansprache Rudolf Steiners zur Eurythmie-Darbietung, S.18 21 Wenn Steiner den Weg von der Intuition zur Imagination als einen "abwärts" verlaufenden Weg beschreibt, so ist das kein Widerspruch zum skizzierten Weg des Blutkreislaufs: Denn "im geistigen Schauen erscheint, was im Menschen ist, als geistige Umgebung." (R. Steiner in der Übermittlung W. J. Steins, in: W. J. Stein / Rudolf Steiner, Dokum. Eines wegweisenden Zusammenwikens, Dornach 1985, S. 299) Besonders deutlich spricht Steiner auch in einem Vortrag von der geistigen Welt in den Tiefen der menschlichen Organisation: "Bei nichts jedoch ist Autorität weniger notwendig, bei nichts ist sie weniger am Platze als bei der Anthroposophie. Denn sie redet von demjenigen, was heute in jedes Menschenwesen hinein will, was hinein will durch die Sinne, aber nicht eingelassen wird von der materialistischen Gesinnung der Zeit. Und diese Anthroposophie redet von dem, was heute aufsteigen will aus dem Innern in jedes Menschen Natur, was aber die Menschen nicht herauflassen aus dem Unterleib durch das Herz zum Kopf, und wovon sie natürlich nichts merken." (aus: Rudolf Steiner, Geisteswissenschaftliche Behandlung sozialer und pädagogischer Fragen, Dornach 1964, Vortrag vom 22. Juni 1919 in Stuttgart, GA 192, Seite 211) 22 Äußerung der Biologie-Professorin Cynthia Kenyon, von der University of California in San Francisco. Zitiert aus: DER SPIEGEL, 17 / 2000, Seite 179 23 Siehe z.B. die Darlegungen in dem Buch Rudolf Steiners: Von Seelenrätseln. Oder die Ausführungen in vielen Vorträgen, z.B. im Vortrag vom 5. August 1916: "Also zweierlei Nerven gibt es, so nimmt der heutige Anatomie-Physiologe an. Dies ist ein völliger Unsinn. ... Die motorischen Nerven dienen nämlich nicht zur Erregung des Willens, sondern sie dienen dazu, den Vorgang, der durch den Willen ausgelöst wird, wahrzunehmen." |